Die Kirchengemeinde als (H)Ort der Demokratie

Die Kirchen und die Demokratie im Deutschland der Gegenwart

Im Gemeinsamen Wort „Vertrauen in die Demokratie stärken“ der Deutschen Bischofskonferenz und der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) vom April 2019 bekennen sich die Kirchen zu ihrer Mitverantwortung für die deutsche Demokratie als politische Lebensform der Freiheit:

„In einer toleranten und pluralen Gesellschaft sehen wir eine Entsprechung zu unserer Überzeugung, dass der Glaube auf einer freien Annahme und Ausübung einer unverfügbaren, vom Heiligen Geist gewirkten Einsicht beruht… Wenn wir als Kirchen zu einer lebendigen Demokratie beitragen möchten, dann sehen wir unsere Aufgabe zwar auch darin, in konkreten politischen Auseinandersetzungen unsere Stimme zu erheben. Vor allem aber sehen wir unsere erste Pflicht als Kirchen darin, für eine vitale Kultur des Christentums und einen lebendigen Glauben zu werben und damit zugleich die Grundlagen zu stärken, von denen die Demokratie lebt. Denn wir sind überzeugt: Die Idee, dass alle Menschen als Geschöpfe Gottes gleich an Würde und Rechten sind, die Überzeugung, dass Solidarität mit den Schwachen zu üben ist, die Vorstellung, dass der Mensch nicht auf das Gegebene festzulegen ist, sondern sich durch Bildung weiterentwickeln kann – alles das gehört zu den ideellen Voraussetzungen einer lebendigen Demokratie. Indem wir für diese Überzeugungen und eine entsprechende, lebendige Glaubenspraxis eintreten, wollen wir dazu beitragen, die Demokratie als Ordnung der Freiheit lebendig bleiben zu lassen.“

Weiterlesen oder vergleichen: Vertrauen in die Demokratie stärken.

Die Leitungen geben ihrer Gemeinde starke Impulse für die Kultur der Glaubenspraxis, des Zusammenlebens und auch der Konfliktgestaltung. Seien Sie herzlich eingeladen, diese aktiv mitzugestalten!

Christlicher Glaube und Grundlagen demokratischen Handelns in der Gemeinde

Doch was bedeutet das für die kirchliche und gemeindliche Praxis innerkirchlicher Demokratie? In den evangelischen Kirchen finden im Rahmen der jeweiligen kirchengesetzlichen Regelungen Wahlen aller Kirchenmitglieder zu repräsentativen Gremien vom Kirchengemeinderat, über Synoden bis hin zu bischöflichen Ämtern statt. Die so nach demokratischer Auswahl zeitlich begrenzt legitimierten Gremien und Amtspersonen übernehmen Verantwortung für die gewählten Aufgaben.

Der Kirchengemeinderat ist dabei das wichtigste Gremium der Selbstbestimmung und -verwaltung der Gemeinde. Er soll mit seinem Mandat im Idealfall die Vielfalt der geistlichen und weltlichen Ansichten und Interessen der Gemeindeglieder repräsentieren und ist so in der Lage, integrierende Gemeinde-„Politik“ im weitesten Sinne zu gestalten, Vielfalt und Gemeinsinn in der Gemeinde immer wieder in ein Miteinander und guten Ausgleich zu bringen. Mehr dazu.

Demokratie gelebter Alltag in Kirchengemeinden

Feiertag und Alltag werden in jeder Gemeinde ganz wesentlich geprägt vom Kirchengemeinderat. Er übernimmt Verantwortung für kleine und große, weise und wegweisende Entscheidungen. Ausgehend vom christlichen Menschenbild (Gottesebenbildlichkeit eines jeden Menschen) ebenso wie vom Menschenbild des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland (grundlegende Gleichheit an Würde und Rechten eines jeden Menschen) trägt das Handeln des Kirchengemeinderates dazu bei, die Vielfalt der Glaubensüberzeugungen und der Lebensentwürfe zusammenzubringen, so dass Gemeindeglieder miteinander leben können. In guter protestantischer Tradition handeln die Mitglieder des Kirchengemeinderates in ihrem  – letztlich auch politischen – Amt in Verantwortung vor ihrer Gemeinde, vor Gott selbst und ihrem eigenen Gewissen.

Herausforderungen zwischen Nächstenliebe und Abgrenzung

Die Vielfalt an Glaubensüberzeugungen und Lebensentwürfen in den Gemeinden spiegelt in einem begrenzten Maße die wachsende Vielfalt in der Gesellschaft. Zu dieser gesellschaftlichen Vielfalt gehören zunehmend auch religiöse, politische und gesellschaftliche Überzeugungen und Konzepte, die sich in der Konsequenz in einem grundlegenden Konflikt mit dem christlichen Menschenbild und den Grundprinzipien des Grundgesetzes befinden.

Ausgrenzung und extreme Positionen in unsicheren Zeiten

Religiös oder anders begründete Ideen und Konzepte der prinzipiellen Abwertung und Ausgrenzung von Menschengruppen finden in der deutschen Gegenwart wachsende Zustimmung in Teilen der Bevölkerung und machen auch vor Kirchengemeinden nicht halt. Der Konsens für eine tragfähige pluralistische Gesellschaft ist über die großen Krisen der vergangenen anderthalb Jahrzehnte – angefangen von der sogenannten Finanzmarkt- und Eurokrise bis hin zu den komplexen Folgen von Russlands Krieg gegen die Ukraine immer brüchiger.

Das Vertrauen in die Vielgestaltigkeit, aber auch in die Gestaltungs- beziehungsweise Funktionsfähigkeit politischer Institutionen nimmt gegenwärtig eher ab als zu. Die immer wiederkehrenden dramatischen Veränderungen bringen alte und neue Ängste hervor. Solidarität bleibt oftmals auf der Strecke, Ausgrenzungen durch gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit in Sprache und Tat erfahren seit Jahren eine Normalisierung. Emanzipatorische Errungenschaften werden offen in Frage gestellt. Eine politische Streitkultur, die diesen Namen verdient, befindet sich offensichtlich in der Defensive. Extreme Positionen und populisitische Politikangebote verzeichnen in diesen Zeiten des Umbruchs, der Unsicherheit und Unübersichtlichkeit stabil hohen Zulauf.

EKD-Studie „Zwischen Nächstenliebe und Abgrenzung“

Sich daraus entwickelnde Konflikte finden selbstverständlich auch in den Kirchengemeinden statt und spiegeln sich im Titel der aktuellen EKD-Studie „Zwischen Nächstenliebe und Abgrenzung“, die Antworten auf wichtige Fragestellungen sucht:

  • Wie gehen Gemeinden mit Rechtspopulismus und anderen Herausforderungen um, die sich im eigenen Haus oder vor den Kirchentüren ergeben?
  • Wie wirkt sich die Religiosität eines Menschen auf sein Verhältnis zur Demokratie aus?
  • Wird in rechtspopulistischen Hasskommentaren online auch theologisch argumentiert?

Zentrale Ergebnisse der Studien lassen sich in zwei Thesen festhalten:

1. Kirchen sind eine Ressource für eine vielfältige, offene und vernetzte Gesellschaft.
Kirchen ermöglichen ein Nebeneinander von verschiedenen theologischen und gesellschaftspolitischen Haltungen und haben damit ein großes Potenzial für Integration. Sie sind Orte, die gesellschaftliches Engagement und soziale Vernetzung fördern, und wirken damit nachweislich demokratieförderlich. Gleichzeitig gibt es unter einigen Kirchenmitgliedern genau wie unter Konfessionslosen auch antidemokratisches Engagement.

2. Kirchengemeinden können ein Ort demokratischer Beteiligung und gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse sein.
Die Fallstudien zeigen, dass Kirchen Orte sind, die gesellschaftliche Impulse und neue Initiativen – etwa für die Nachhaltigkeit oder die Bekämpfung von Rechtsextremismus – setzen können. Ob und wie sich Gemeinden mit diesen Herausforderungen auseinandersetzen, unterscheidet sich stark und hängt von vielen Faktoren ab, unter anderem von der Rolle Einzelner und der soziokulturellen Prägung der Gemeinde.

Fazit

Mit Blick auf demokratisches Handeln sind Kirchengemeinden in der Praxis beides: Orte der gelebten Demokratie und des Demokratielernens im Miteinander, Orte des konstruktiven demokratischen Konflikts und des Ringens um gutes Miteinander auf der Basis christlicher Ethik und Orte der Bewahrung und Verteidigung demokratischer Grundwerte – allen voran der unveräußerlichen Würde jedes Menschen – und der Demokratie als friedensbewahrende Organisationsform des Zusammenlebens in unserer Gesellschaft.

Handlungshinweise in einer Checkliste

Kirchengemeinden vor Ort können einiges tun, um konkreten Gefährdungen für Mitmenschen und eher abstrakten Gefährdungen für die Demokratie konkret zu begegnen. Aktueller denn je sind die Hinweise der damaligen Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Mecklenburgs, die bereits 2009 angesichts akuter rechtsextremer Stärke im östlichen Bundesland für das Gemeindehandeln empfohlen wurden:

  • Haltungen und Positionen überprüfen
    Auch Christinnen und Christen sind nicht automatisch gegen Vorurteile oder Intoleranz gefeit, insbesondere Antisemitismus, aber auch rassistische Stereotypen und Handlungsweisen, demokratieskeptische oder -ferne Haltungen können in den Kirchengemeinden vorkommen. Durch Beratungsangebote und Projekte kann der Dialog über schwierige Fragen des menschlichen Miteinanders angeregt und die eigenen Positionen und Antworten können selbstkritisch hinterfragt werden.
     
  • Demokratie lernen durch Demokratiebildung
    Zur Stärkung demokratischen Bewusstseins und Erfahrungen können Kirchengemeinden in ihren Kinder-, Jugend- und Erwachsenengruppen und in ihren Gremien vielfältige Lernmöglichkeiten anbieten. Echte Mitbestimmungs- und Mitgestaltungsmöglichkeiten in der Gemeinde sind dabei das wichtigste Lernfeld und können zu wertvoller Erfahrung werden. Fachberatungsstellen in der Nordkirche können hier unterstützen und begleiten.
     
  • Wächteramt wahrnehmen
    Kirchengemeinden können und sollen sich öffentlich zu politischen Fragen äußern, die im Zusammenhang mit Rassismus, Rechtsextremismus oder anderen demokratiegefährdenden Positionen stehen. Das gilt sowohl grundsätzlich, als auch in konkreten Zusammenhängen.
     
  • Engagierte Verkündigung
    In Gottesdiensten und anderen Veranstaltungen können bestimmte (Jahres-)Tage genutzt werden, um rassistisches, rechtsextremes und anderes diskriminierendes Denken und Handeln zu thematisieren.
     
  • Zeichen setzen
    Durch öffentlichkeitswirksame Aktionen, wie Feste, Wettbewerbe, Musikveranstaltungen und weiteres können Kirchengemeinden ihr Bekenntnis gegen rassistisches, rechtsextremes oder anderes ausgrenzendes  Gedankengut bzw. gegen entsprechende Handlungen sichtbar machen.
     
  • Verbündete suchen
    Die Kirchengemeinden stehen der Herausforderung durch Rassismus, Rechtsextremismus und anderen Formen der Ausgrenzung und des Hasses nicht allein gegenüber. An vielen Orten sind bereits Bündnisse entstanden, in denen die Gemeinden mitwirken können oder die auf Initiative einer Gemeinde entstanden.
     
  • Unterwanderung verhindern
    Insbesondere rechtsextreme Personen und Gruppen versuchen, unter dem Deckmantel von Sachthemen (z.B. Migration, Energiewende, Ukraine-Konflikt, Inflation …) oder durch scheinbar soziales Engagement Zugang zu Initiativen und Vereinen zu erhalten, um das Klima vor Ort in ihrem Sinne zu beeinflussen. Kirchengemeinden sollten genau beobachten, wer ihnen Unterstützung oder gemeinsames Handeln anbietet.
     
  • Ansprechbar sein
    Opfer rassistischer oder rechtsextremer Gewalt brauchen Hilfe und Begleitung. Erste Ansprechpersonen vor Ort könnten kirchliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sein. Beratung für die sinnvolle Gestaltung einer Erstbetreuung finden sie bei den professionellen Opferhilfen.
     
  • Vermittlung leisten
    Nach rassistischen, rechtsextremen oder anderen diskriminierenden Vorfällen kommt es zwischen Verantwortlichen vor Ort nicht selten aufgrund einer unterschiedlichen Interpretation der Ereignisse zu Konflikten und gegenseitigen Schuldzuweisungen. Kirchlich Engagierte sind in solchen Situationen mitunter die Einzigen, die von allen Beteiligten als Vermittelnde akzeptiert werden. Diese Rolle gilt es aktiv anzunehmen.

Beratung und Materialien zu diesen Herausforderungen

Bundesarbeitsgemeinschaft Kirche und Rechtsextremismus

Mecklenburg-Vorpommern

Evangelische Akademie der Nordkirche
> Regionalzentren für demokratische Kultur Landkreis und Hansestadt Rostock
> Regionalzentrum für demokratische Kultur Vorpommern-Rügen

Projekt „Kirche stärkt Demokratie“ (KK Mecklenburg und Pommern)

CJD Nord, Regionalzentrum für demokratische Kultur Mecklenburgische Seenplatte, CJD Nord, Regionalzentrum für demokratische Kultur Vorpommern-Greifswald

RAA Mecklenburg-Vorpommern
Regionalzentrum für demokratische Kultur Nordwestmecklenburg

LOBBI – Für Betroffene rechter Gewalt

Schleswig-Holstein

Beratungsnetzwerk gegen Rechtsextremismus

Regionale Beratungsteams gegen Rechtsextremismus Schleswig-Holstein

Hansestadt Hamburg

Beratungsnetzwerk gegen Rechtsextremismus Hamburg

Dieser Beitrag wurde von Hartmut Gutsche mit den Zentren für demokratische Kultur erstellt.